Die Qualität des Nichtwissens

Unser kleiner Geist hat das Bedürfnis, die Welt und die Erfahrungen, die wir in ihr machen, einzuteilen und zu bewerten. Er will klare Richtlinien haben, nach denen er sich verhalten soll, wissen, was richtig und was falsch, was gut und was schlecht ist. In kontroversen Diskussionen will er einen klaren Standpunkt beziehen, auf Fragen will er klare und eindeutige Antworten haben und alles, was nicht in das eigene Weltbild passt, wird abgewertet oder als unmöglich abgetan, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Deshalb neigen wir auch dazu, uns mit Menschen zu umgeben, die gleich denken wie wir, die uns in unseren eigenen Ansichten und Überzeugungen bestätigen. Das macht uns noch sicherer, dass wir richtig unterwegs sind und wir uns selbst, unser Denken und Handeln nicht in Frage stellen müssen.

Solange wir uns in diesen Geleisen bewegen, ist das Leben einfach und bequem, wenn auch manchmal leidvoll (aber das vertraute Leiden ist uns meist lieber als das Unbekannte), aber wir können uns nicht weiterentwickeln.

Interessant wird es immer dann, wenn Irritationen auftreten. Wenn wir Dinge erfahren, die unsere Konzepte sprengen, die sich in unser bisheriges Weltbild nicht einordnen lassen. Wenn Probleme auftreten, die wir mit unserem bisherigen Denken und unseren gelernten Werkzeugen nicht lösen können.

Wenn wir diese Irritationen zulassen, wenn wir sie nicht gleich beiseiteschieben oder ignorieren, sondern die Spannung aushalten und unseren Geist öffnen für die Möglichkeit, dass es da auch noch eine Wahrheit gibt, die wir bisher noch nicht kannten, etwas, das wir noch nicht wussten, dass das Leben komplexer und geheimnisvoller ist als unser kleiner Verstand bisher annahm, dann besteht die Chance, unser Bewusstsein zu erweitern und uns weiterzuentwickeln. Das bedeutet – zumindest für eine gewisse Zeit, bis wir die neuen Erfahrungen integriert haben – in der Freiheit des Nichtwissens zu verweilen.

Nichtwissen hat nichts mit Dummheit zu tun. Ganz im Gegenteil. Oft ist gerade der Glaube, etwas ganz genau zu wissen und besser als alle anderen, in Wirklichkeit Dummheit. Nichtwissen bedeutet, es auszuhalten, nicht gleich auf alles eine Antwort zu wissen, sich nicht gleich zu entscheiden, ob A oder B richtig ist, sondern alles für möglich zu halten. Auch die Möglichkeit, dass scheinbar unvereinbare Gegensätze nur unterschiedliche Aspekte der einen Wahrheit sind.

Es bedeutet auch nicht, unseren kritischen Verstand auszuschalten und etwas blind zu glauben oder unüberprüft nachzuplappern. Gerade das passiert ja sehr oft. Und in Zeiten des Internets werden massenhaft Falschnachrichten durch den Äther geschickt. Wir dürfen und sollen schon überprüfen, erforschen, selbst nachdenken und überlegen, aber ohne dabei die Fakten zu ignorieren und immer in der Bereitschaft, überholte Überzeugungen zu ändern.

Nichtwissen bedeutet auch nicht, keine Überzeugungen zu haben, keine Werte, keinen Handlungsleitfaden. Im Gegenteil. Gerade in pluralistischen Zeiten sind universale Grundwerte besonders wichtig. Sie schützen uns auch davor, den Ideologien irgendwelcher Demagogen auf den Leim zu gehen. Aber wir tun gut daran, uns bewusst zu sein, dass alle unseren Überzeugungen letztlich nur Stückwerk sind und nie die volle Wahrheit.

Im Nichtwissen geht eine Lücke auf. Da entsteht Raum. Raum für Kreativität und Veränderung. Alles ist möglich, grenzenlose Freiheit. In dieser Lücke des Nichtwissens öffnen wir uns für die unendliche Weite des Geistes. In diesem Moment kann etwas völlig Neues entstehen, eine Entwicklung passieren, die uns in ungeahnte neue Dimensionen führt.

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